Ins "Tagebuch der Gefühle" eintauchen

Ein Jugendlicher schaut auf einen Laptop
Jugendliche veröffentlichen ihre Gedanken und Gefühle bei der Beschäftigung mit jüdischen Schicksalen

Stolpersteine, Gedenktage und Gedenkstätten, das Tagebuch der Anne Frank... Spätestens im Geschichtsunterricht lernen Schüler:innen, sich mit Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen und zu verstehen, warum es so wichtig ist zu gedenken.

Doch was passiert, wenn Jugendliche keine Möglichkeit auf Schulbildung haben oder lediglich grundlegendes Geschichtswissen in der Schule erlernen?

2011 kam der Pädagoge Andreas Dose aus Halle (Saale) auf die Idee, Schüler:innen ohne Schulabschluss oder mit Hauptschulabschluss, die sonst keinen Zugang zu dieser Thematik bekommen würden, die Möglichkeit zu geben, sich mit der NS-Zeit auseinander zu setzen. Daraus ist dann das Projekt „Tagebuch der Gefühle“ entstanden, in welchem Gefühle und Eindrücke von Jugendlichen dokumentiert werden, die sich mit jüdischen Einzelschicksalen aus Halle beschäftigen. Anschließend wurden Lesungen des ersten Tagebuchs in vielen sachsen-anhaltischen Schulen organisiert, um andere Schüler:innen an diese Art des Erinnerns heranzuführen.

Tagebuch der Gefühle goes online

2018 begannen die Jugendlichen nach einer Bildungsfahrt nach Auschwitz, ihre Gefühle digital zu dokumentieren und Videos auf YouTube zu veröffentlichen, in denen sie Einblicke in ihre Fahrt gaben. Seitdem hat das Projekt eine digitale Seite, die nun nicht mehr wegzudenken ist.

Nach dem YouTube-Kanal folgte seit 2019 die Instagram-Präsenz des Projekts. Die ehrenamtlichen Mitglieder des Projekts sind der Meinung, dass Videos einen leichteren Zugang zu der sehr komplexen Thematik der NS-Zeit bieten. Doch gerade durch Instagram meint Paul Fiedler, langjähriger Ehrenamtlicher in dem Projekt, erreichen sie ihre Zielgruppe besser und haben so die Möglichkeit, direkt mit anderen jungen Leuten zu kommunizieren. Instagram habe für das Projekt vor allem eine Kontaktfunktion, über die Interessierte dazustoßen können, so Paul Fiedler. Aber auch Informationen zu Gedenktagen, Einladungen zu Lesungen aus dem Tagebuch oder Veranstaltungen zu dem Thema Gedenken (bspw. Stolper- oder Grabsteinputzen) werden hier veröffentlicht.

Die Mitglieder des Projekts kommen aus sehr verschiedenen Milieus und Paul Fiedler sagt, dass in der Gruppe Leute zusammenkommen, die sonst überhaupt nicht aufeinandertreffen würden. Sie alle eint das geschichtliche Interesse, sich in den Tagebucheinträgen mit jüdischen Einzelschicksalen der NS-Zeit, aber auch mit anderen Opfergruppen, z.B. Menschen mit Behinderung, Sinti und Roma zu befassen. Bei Lesungen bringen sie ihre Zuhörer:innen dazu, sich mit eben diesen auseinander zu setzen.

Digital verbunden

Da das Projekt ehrenamtlich ist und in der Freizeit der Jugendlichen, also neben Schule oder Studium läuft, sehen sich die Teilnehmenden nicht sehr regelmäßig. Trotzdem sind sie digital vernetzt und können somit konstant kommunizieren. Der Großteil ihres Engagements geschieht digital. Mit Tools wie Canva, Whats-App, diversen Schnittprogramme und einer Kamera verwirklichen sie ihr Vorhaben.

Natürlich birgt digitales Engagement auch Herausforderungen, etwa regelmäßige Insta-Posts zu koordinieren oder neue technische Skills zu erlernen. Für Paul Fiedler, der seit seiner Kindheit Schnittprogramme nutzt und nun Medien und Kommunikationswissenschaften studiert, stellen Canva und Co. kein Problem dar und er findet viel Freude an seinem Engagement.

Pauls Tipps

Um beim digitalen Engagement gut zusammenzuarbeiten, sieht Paul vier Punkte als wichtig an: ein Konzept zu entwickeln, auf welche Art und Weise das Projekt nach Außen präsentiert werden soll, auf welche digitalen Tools man zurückgreifen möchte, wie die Aufgabenverteilung aussieht und sich mit (potenziellem) Hass im Netz auseinander zu setzen.

Digitale Anfeindungen seien dem Projekt trotz ihrem sensiblen Thema glücklicherweise noch nie begegnet. Auszeichnungen wie der Margot Friedländer Preis, der JugendEngagementPreis, ein Preis des Wettbewerbs ‚Demokratisch Handeln‘ und ‚Alle Kinds sind VIPs‘ sowie die Nominierung zum deutschen Engagementpreis und viel positives Feedback hingegen schon. Dies sind ebenso wie gegenseitige Motivation wichtige Bestandteile ihres Engagements.

Das Projekt "Tagebuch der Gefühle" erhält den Margot Friedländer Preis

Das Projekt "Tagebuch der Gefühle" erhielt u.a. den Margot Friedländer Preis. Er würdigt Engagement von Jugendlichen gegen Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus und Ausgrenzung und für eine pluralistische Migrationsgesellschaft.

Foto: Stefanie Loos

Paul hebt neben der ersten Videoreihe des Projekts , die im Zuge der Bildungsfahrt nach Auschwitz entstanden ist, insbesondere eine Aktion hervor, zu der das Projekt nach dem antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle aufrief: Menschen aus ganz Sachsen-Anhalt sandten ihre Videobotschaft gegen Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und jegliche Formen von Hass an das Projekt, woraus dann ein Video entstand. Ein ähnliches Video mit internationalen Botschaften entstand dann ein Jahr später.

Trotz der Digitalität des Projekts wird die analoge Seite geschätzt: bei gemeinsamen Freizeitaktivitäten, Bildungsfahrten wie die nach Auschwitz, Gedenkstättenbesuchen vor Ort, aber auch während der Lesungen und Präsentationen des Tagebuchs kommen die Mitglieder in einen spannenden, persönlichen Austausch und das Gruppengefühl wird gestärkt. Auch das Selbstbewusstsein Einzelner profitiert von dem Projekt, wenn man etwa vor bis zu 200 Zuhörer:innen aus dem Tagebuch vorliest oder Gleichaltrige an das Erinnern heranführt.

Unter dem Motto „Wir sind die neuen Zeitzeugen“ möchten die Mitglieder auch weiterhin Geschichten von verstorbenen Zeitzeug:innen weitergeben, weswegen sie derzeit auch bereits an ihrem siebten Tagebuch schreiben, das 2024 veröffentlicht werden soll.

Das "Tagebuch der Gefühle" ist eins von vielen Beispielen, wie sich Jugendliche und junge Menschen digital für gesellschaftlichen Zusammenhalt engagieren. Wir stellen sie hier vor, um andere dafür zu begeistern.

Weitere Infos zum Projekt "Tagebuch der Gefühle"

Instagram

Website

Youtube

Ansprechpartner:
Andreas Dose
Halle (Saale)

tagebuchdergefuehle@gmx.de